Das Venture-Capital-Team um Bernhard Mohr (2. von links) setzt sich aus erfahrenen Investmentmanagern zusammen, die den Portfoliounternehmen eine umfassende Beratung bieten.
Das Venture-Capital-Team um Bernhard Mohr (2. von links) setzt sich aus erfahrenen Investmentmanagern zusammen, die den Portfoliounternehmen eine umfassende Beratung bieten.
Venture Capital

Auf den Schultern des Riesen

Evonik hat eine eigene Venture-Capital-Einheit. Anders als ein reiner Finanzinvestor unterstützt der Konzern die Start-ups nicht nur mit Kapital, sondern auch mit seiner Expertise und seinem Netzwerk – und profitiert davon.

ist Chemiker und Geschäftsführer der Evonik Venture Capital GmbH, die insgesamt mit 250 Millionen € ausgestattet ist. Sein neunköpfiges Team sitzt in Deutschland, den USA und in China und besteht aus Betriebswirten, Juristen, Chemikern, Physikern und Verfahrenstechnikern. Die inhaltliche Ausrichtung von Venture Capital orientiert sich an Geschäftsfeldern, die Evonik als besonders wachstumsstark ausgemacht hat. Das Portfolio umfasst Direktinvestitionen und Beteiligungen an Venture-Capital-Fonds.

Herr Mohr, warum investieren Sie in Start-ups? Evonik ist doch ein Chemieunternehmen und kein Finanzinvestor?
Evonik lebt von Innovationen. Unsere Wissenschaftler arbeiten Tag für Tag an neuen Produkten, Verfahren und Technologien. Gleichzeitig wissen wir auch, dass es weltweit zahlreiche Forscher und Unternehmer gibt, die Zukunftstechnologien entwickeln, die für uns hochinteressant sind. Wir wären dumm, wenn wir davor die Augen verschlössen. Daher fördern wir junge Unternehmen, die an relevanten Dingen arbeiten, mit Kapital, aber auch mit unserem Know-how – und öffnen uns dadurch die ganze Welt der Innovationen.

Venture Capital, also Wagniskapital, das klingt doch erst einmal nach Risiko, oder?
Tatsächlich bewerten wir bei der Auswahl der Unternehmen auch stets, wie hoch das Risiko ist. Aber wir schauen vor allem auf die Chancen, die sich für Evonik bieten.

Und wo liegen die Chancen?
Durch die Zusammenarbeit mit den jungen Unternehmern erhalten wir Zugang zu neuen Märkten, Technologien und Geschäftsmodellen. Wir bekommen weltweite Trends ganz früh mit und lernen viel von der Arbeitsweise der Start-ups. Das alles ist für uns die strategische Rendite aus den Investitionen. Während für
klassische Kapitalgeber eine Investitionsentscheidung unter rein finanziellen Renditeaspekten erfolgt, bemisst sich unser Erfolg aus der Summe der finanziellen und der strategischen Rendite.

Zu einem solchen Investment gehören ja immer zwei: Warum wollen die Start-ups, dass Evonik sich beteiligt?
Wir stellen nicht nur Kapital zur Verfügung, sondern verstehen uns als Partner der Start-ups. Evonik versorgt die Gründer mit Markt-, Technologie- und Produktions-Know-how, aber auch mit unserem Wissen um Patentrechte. Außerdem erhöht die Partnerschaft mit uns die Wahrnehmung eines Start-ups bei potenziellen Kunden und weiteren Kapitalgebern. Die jungen Unternehmen suchen einen starken Partner, mit dem sie auf Augenhöhe zusammenarbeiten können, um ihr Wachstum zu unterstützen. Das können wir ihnen mit unseren
Experten und Wissenschaftlern, aber auch mit Laboren und Anlagen auf der ganzen Welt bieten.

Haben Sie da ein Beispiel?
Ja: Meditool, unsere erste Venture-Capital-Beteiligung in China. Meditool nutzt das Material VESTAKEEP® PEEK von Evonik und erstellt 3D-gedruckte Implantate, die Mediziner etwa für Menschen mit Wirbelsäulenschädigungen oder für Knochenersatz am Schädel oder im Gesicht nutzen können. Diese Verwendung war für uns neu.

Evonik stellt VESTAKEEP® PEEK doch schon länger her. Was hat Ihnen die Zusammenarbeit mit Meditool gebracht?
In dieser speziellen Anwendung muss unser Hochleistungskunststoff eine ganz besondere Struktur haben. Er soll nicht nur vom Körper akzeptiert werden, sondern sogar mit dem Knochen und der Haut verwachsen. Gemeinsam mit Meditool arbeiten wir nun daran, unser Material für genau diesen Zweck zu optimieren.

Wie finden Sie solche Unternehmen wie Meditool?
Das ist viel Arbeit und echtes Teamwork. Wir schauen uns im Jahr rund 1.200 Unternehmen an. Etwa 700 davon nehmen wir genauer unter die Lupe. Zu einer Investition kommt es dann bei vielleicht sieben. Aber wenn Sie die besten Fische aus dem Teich wollen, müssen Sie eben auch an allen Stellen fischen.

Und die anderen 693?
Auch hierunter finden sich viele Unternehmen, die für uns sehr interessant sind. Pro Jahr starten wir Folgeaktivitäten mit circa 30 Unternehmen, ohne direkt zu investieren. Der weltweite Überblick bei Start-up-Unternehmen ermöglicht uns auch, frühzeitig Technologietrends und neue Geschäftsmodelle zu erkennen.

Auf welche Regionen schauen Sie bei der Suche?
Auf die ganze Welt. Ich bin froh, ein so erfahrenes Team zu haben, dass wir tatsächlich global schauen können. Als weltweit aktives Unternehmen wissen wir, dass es überall innovative Unternehmen gibt, die sich mit uns verknüpfen wollen. Das kann in China sein, wie beim Beispiel Meditool, oder in Israel, wie bei Castor.

In welcher Phase sind diese Firmen dann?
Die Investitionsreichweite erstreckt sich von der Frühphase, in der häufig erst ein Prototyp vorliegt, bis zur Wachstumsphase, wo ein Unternehmen schon über signifikante Umsätze verfügen kann. Die Zahl der Mitarbeiter variiert zwischen drei und 100.

„Venture Capital ist für Evonik ein hervorragendes Instrument, weltweit Zugang zu Innovationen zu bekommen und zugleich Kapital lukrativ anzulegen. Wir profitieren als Konzern von der Dynamik der Start-ups.“

Welche Fragen stellen Sie den Unternehmen, die eine Beteiligung von Evonik wünschen?
Inhaltlich geht es um die Technologie, das Geschäftsmodell und die Alleinstellungsmerkmale des Unternehmens. Wenn wir bei diesen Punkten auf einem guten Weg sind, befassen wir uns auch mit den Fragen, wie eine zukünftige Partnerschaft aussehen könnte und was wir gemeinsam erreichen wollen. Was
bringt das Start-up-Unternehmen ein, was Evonik, und was sind unsere entsprechenden Erwartungen? Enorm wichtig ist aber auch, dass ich merke, dass sie genau zu uns wollen, zu Evonik.

Warum ist das so wichtig?
Nun, Venture Capital ist wie eine lange Wanderung. Am Anfang sind alle froh, dass es losgeht. Dann kommen viele Kilometer gemeinsame Strecke. Da muss es passen. Es ist wichtig, dass das Management zu uns passt. Ist es flexibel bei Veränderungen? Wie reagiert es auf Krisen? Würde es akzeptieren, wenn wir Spezialisten von außen holen, die vielleicht mehr verdienen als sie selbst? Oder um im Bild zu bleiben: Lässt sich der Kleinere
auf den Schultern des Riesen durch einen Fluss tragen?

Das klingt nicht danach, als ginge es nur um Zahlen.
Wir investieren letztendlich immer in Menschen. Zahlen sind wichtig, aber die Menschen sind entscheidend.

Wir bleiben beim Wandern: Wann trennen sich die Wege?
Venture Capital ist nun mal eine Partnerschaft auf Zeit, in der Regel gehen wir von einer Haltezeit unserer Beteiligungen von vier bis sechs Jahren aus. Wir arbeiten zusammen, bis beide ihre Ziele so weit wie möglich erreicht haben und sich das Unternehmen auch im Wert gut entwickelt hat. Wir können nicht davon ausgehen, dass beide Partner auf Dauer dieselben Ziele haben. Aber selbst nach einem Verkauf bleiben der Kontakt und die Zusammenarbeit in vielen Punkten ja oft bestehen.

Und ist die Trennung selbst schmerzhaft?
Nein, da sind wir nicht anders als andere Wagniskapitalgeber. Die Trennung ist ja das eigentliche Ziel, genauer: die profitable Trennung. Vier Beteiligungen haben wir bisher abgeschlossen, dreimal haben wir sehr profitabel verkauft. Die vierte Beteiligung, Structured Polymers in Texas, USA, haben wir vollständig übernommen.

Das war aber doch nicht der ursprüngliche Plan?
Nein, aber mit unserer Investition in 2017 hatten wir eine Art Grundstein für die spätere Übernahme gelegt. Wir waren die gesamte Zeit in engem Austausch mit dem Geschäft. Gemeinsam stellten wir fest, dass Structured Polymers einen so großen technologischen Schritt machte, dass es ausgezeichnet zu unseren bestehenden Aktivitäten im Bereich 3D-Druck passte. Da haben wir einen Kaufprozess gestartet. Die Übernahme durch Evonik ist aber eher eine Ausnahme als die Regel. Eine nicht geglückte Zusammenarbeit
könnten wir uns erlauben, aber wir haben die Absicht, dass es nicht dazu kommt.

Über welche Summen reden wir beim Investment?
Unser Einstiegsinvestment liegt typischerweise im niedrigen einstelligen Millionenbereich. Wir haben die Möglichkeit, bis zu 15 Millionen Euro pro Unternehmen über mehrere Finanzierungsrunden zu investieren. Damit sind wir auch finanziell ein starker Partner für unsere Portfoliounternehmen.

Start-ups (3 von 30)

IN OVO Weltweit werden pro Jahr geschätzt 3,2 Milliarden männliche Küken getötet. Der Grund: Männliche Tiere werden in der Geflügelzucht nicht aufgezogen, da sie weder Eier legen noch für die Fleischproduktion geeignet sind. Die Technologie von In Ovo macht das Töten männlicher
Küken überflüssig. Das Start-up hat eine schnelle und verlässliche Methode zur Geschlechtsbestimmung im Ei entwickelt. In Ovo setzt das Kapital von Evonik für die Weiterentwicklung der Technologie ein, bis diese kommerziell in Brutbetrieben angewendet werden kann. Evonik stärkt das Geschäft von Animal Nutrition durch Ausweitung der Tätigkeit im Bereich Eierproduktion.

MODERN MEADOW produziert über einen Fermentationsprozess mit Hefezellen tierfreies Kollagen, ein Protein, das ein natürlicher Bestandteil von Tierhäuten ist. Das Start-up trägt damit zur nachhaltigen Deckung der steigenden Nachfrage nach tierfreien Produkten bei. In der Partnerschaft mit Modern Meadow bringt Evonik die Produktion von Kollagen zu kommerzieller Größe. Kollagen ist in vielen Anwendungsbereichen zu finden. Als das am häufigsten vorkommende Protein im menschlichen Körper kann es auch für pharmazeutische und medizinische Anwendungen eingesetzt werden. Evonik prüft die Möglichkeiten von biotechnologisch produziertem Kollagen für den Healthcare-Markt.

CASTOR TECHNOLOGIES Die Software von Castor prüft die Druckbarkeit eines Bauteils, das ideale Druckmaterial und ermittelt Produktionskosten sowie Vorlaufzeiten. Das hilft Herstellern, die bislang traditionelle Produktionsmethoden wie Spritzguss anwenden, bei der Entscheidung, ob und wie sie 3D-Druck einsetzen können. In diese Partnerschaft bringt Evonik Expertise im Bereich Druckmaterialien ein und unterstützt Castor dabei, die Software für eine Vielzahl von Branchen zugänglich zu machen. Evonik kann damit auch Dienstleistungen anbieten. Kunden bekommen die Möglichkeit, die Bauteile zu identifizieren, die mit Hochleistungspolymerpulvern und Filamenten gedruckt werden könnten.

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