Pressemitteilung
Standort Lülsdorf
9. Dezember 2013

Teil 22: Die Aufarbeitung der NS-Zeit

Nach dem Fall der Mauer und den umwälzenden politischen Veränderungen im früheren Ostblock entstand Raum für Diskussionen, die bis dahin niemand hatte führen wollen. So erhoben NS-Opfer ihre Stimme, die lange Zeit hinter dem „Eisernen Vorhang“ gelebt hatten und niemals für das Unrecht, das sie im „Dritten Reich“ hatten erleiden müssen, von westdeutschen Firmen entschädigt worden waren. Sie lösten eine heftige Debatte über die Verstrickung der deutschen Wirtschaft in die Machenschaften des NS-Regimes aus. Aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit und drohender Sammelklagen in den USA begannen zahlreiche deutsche Wirtschaftsunternehmen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, sich mit ihrer Vergangenheit im „Dritten Reich“ auseinander zu setzen. Im Jahr 1997 vergab der Vorstand der damaligen Degussa AG, Frankfurt, den ersten Auftrag an einen unabhängigen Forscher, um Licht ins Dunkel der Firmengeschichte zu bringen. Der Historiker Ralf Banken machte sich daran, die Entwicklung des deutschen Edelmetallsektors im „Dritten Reich“ und die Rolle der Degussa als größte deutsche Edelmetallscheideanstalt zu untersuchen. Im Jahr 2008 legte Banken sein 900 Seiten starkes Werk „Edelmetallmangel und Großraubwirtschaft“ vor. Das umfassende Werk zur Geschichte der Degussa AG im Nationalsozialismus schrieb ein anderer. 1998 beauftragte der Vorstand den US-Historiker und Holocaust-Experten Peter Hayes mit der Erforschung. Wie schon Ralf Banken verlangte Hayes für seine Arbeit absolute Offenheit und keinerlei Einflussnahme von Seiten des Auftraggebers. Dies ging sogar so weit, dass er vertraglich festhalten ließ, er könne die Degussa in den USA verklagen, sobald er herausfände, dass ihm Akten oder Informationen vorenthalten würden. Zudem erhielt er das Copyright sowohl für die deutsche, als auch die englische Ausgabe seines Werkes. Und er setzte durch, dass alle Unterlagen, die er benutzte, anschließend für die Öffentlichkeit zugänglich sein müssen. Dr. Andrea Hohmeyer, Leiterin des Konzernarchives von Evonik, arbeitete damals eng mit allen Forschern zusammen und unterstützte auch den deutsch sprechenden US-Historiker bei seiner Arbeit: „Peter Hayes war ein Glücksgriff für das gesamte Vorhaben. Als renommierter Experte erforschte er akribisch die entsprechenden Bestände unseres Archivs und fasste alle seine Erkenntnisse in einem Buch zusammen, dass allgemein hohe Anerkennung erhielt.“

2004 erschien „Die Degussa im Dritten Reich – Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft“. Interessierte Mitarbeiter erhielten ein kostenloses Exemplar. „Zweifel, Zögern oder Skrupel gegenüber den rassistischen und menschenverachtenden Ausbeutungsmechanismen ausländischer Arbeitskräfte des nationalsozialistischen Deutschlands waren zu keinem Zeitpunkt in der Unternehmensleitung erkennbar.“ Zu diesem Schluss kommen Paul Erker und Bernhard Lorentz in ihrem 2003 publizierten Werk „Chemie und Politik – Die Geschichte der Chemischen Werke Hüls 1938-1979“. Dieses Forschungsprojekt war das dritte, das der Vorstand des nunmehr als Degussa-Hüls AG firmierenden Unternehmens 1999 in Auftrag gab. Und auch diese Publikation wurde kostenlos an interessierte Mitarbeiter abgegeben.

Die beiden Historiker aus München und Berlin arbeiteten unter den gleichen Voraussetzungen wie Peter Hayes und Ralf Banken: Offenlegung aller Unterlagen des Archivs, Eigentum am Copyright, keine Einflussnahme durch die Unternehmensleitung. In allen Fällen wurde den Vorständen erst am Erscheinungstag ein Buch durch die Autoren überreicht. Die im Rahmen der Buchveröffentlichungen geführten Diskussionen waren offen, aber auch von Betroffenheit über die zu Tage geförderten Erkenntnisse geprägt. Die Forschungsprojekte zur „Degussa im Dritten Reich“ und der „Geschichte der Chemischen Werke Hüls 1938-1979“ bearbeiteten einen großen Themenkreis. Er zog sich von der Gründung des Marler Werkes durch die I.G.-Farben über Zwangsarbeit, Kriegsproduktion und Rüstung sowie Verbindungen zum NS-Staat bis hin zu „Arisierungen“, der Verwertung von geraubtem Edelmetall und Zyklon B, jenem Schädlingsbekämpfungsmittel, das die Degussa-Beteiligung Degesch an die Konzentrationslager lieferte. „Die Bilanz der NS-Zeit fällt für die Vorgängerunternehmen der Degussa verheerend aus. (…) Die immense, nicht mehr zu leugnende Schuld Deutschlands am sinnlosen Tod von Millionen Menschen erwies sich als schwere Hypothek für die Zukunft.“ Mit diesen Worten schließt das Kapitel „Abgründe“ in einer 2006 vom Konzernarchiv herausgegebenen Publikation. Wie sie zeigt auch die historische Website von Evonik, die der Geschichte der Vorgängergesellschaften im Nationalsozialismus breiten Raum gibt, dass die Verantwortung mit der Aufarbeitung nicht endete. Fast noch wichtiger sind nämlich die geänderte Wahrnehmung des Themas und die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden, wie Andrea Hohmeyer erläutert: „Dies ist eine Geschichte ohne Ende, weil dort so gravierende Untaten begangen wurde. Viele Überlebende erlitten Traumata, die sie an ihre Familien weiter gegeben haben. Nicht nur sie werden immer wieder daran erinnert, auch wir dürfen die Geschehnisse niemals vergessen.“

Erinnerung, Verantwortung und Zukunft

Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) wurde im Jahr 2000 gegründet. Sie ging aus der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft hervor, zu deren Gründungsmitgliedern die frühere Degussa AG gehörte. Dr. Michael Jansen, Vorsitzender der Stiftung EVZ, war zuvor Generalbevollmächtigter der Degussa. Mit Geldern, die von der Bundesrepublik und der deutschen Wirtschaft zu gleichen Teilen bereitgestellt wurden, zahlte die Stiftung EVZ Entschädigungen von 4,4 Mrd. Euro an weltweit 1,66 Mio. Opfer von Zwangs- und Sklavenarbeit. Auch heute arbeitet die Stiftung in den Handlungsfeldern „Auseinandersetzung mit der Geschichte“, „Handeln für Menschenrechte“ und „Engagement für Opfer des Nationalsozialismus“. Innerhalb dieser Handlungsfelder fördert die Stiftung diverse Projekte, die regelmäßig ausgeschrieben und dann langfristig betreut werden.