Betriebsleiter Bernd Rachor (l.) und Produktionsmeister Eugen Burbach prüfen die Produktion am Extruder in Obernburg.
Betriebsleiter Bernd Rachor (l.) und Produktionsmeister Eugen Burbach prüfen die Produktion am Extruder in Obernburg.
Produkte & Lösungen

Obernburg

Feste Wirkung

Der Standort Obernburg in Unterfranken produziert Masterbatche, mit deren Hilfe Additive in Kunststoffe eingebracht werden. Evonik hat diese besondere Technologie im vergangenen Jahr erworben.

Ein großes Bündel dicker weißer Fäden läuft aus der Düse der Aufschäumungsanlage. Die aufgeschäumten Kunststoffschnüre erinnern an Bleibänder, mit denen man Vorhänge oder Gardinen beschwert. Harald Winkler, Produktionsmitarbeiter am Evonik-Standort im unterfränkischen Obernburg, prüft, ob alles gleichmäßig läuft. Die Anlage zieht die Schnüre in eine Schneidemaschine, zerteilt sie in kleine Stücke und siebt diese. Übrig bleibt ein Granulat, das in der Kunststoffindustrie wertvolle Dienste leistet.

ACCUREL® ist der Markenname für die Produkte, die Evonik mit der Übernahme des Standorts Obernburg in sein Portfolio aufgenommen hat. Die aufgeschäumten Polymere können wie ein Schwamm flüssige Additive
aufnehmen, die Kunststoffen bestimmte Eigenschaften verleihen, zum Beispiel einen Flamm- oder Kratzschutz. Das mit Additiven bestückte Granulat – der sogenannte Masterbatch – wird mit dem normalen Kunststoffgranulat aufgeschmolzen und final zu diversen Kunststoffteilen geformt. Aufgeschäumt werden die Polymere für den Masterbatch mit Kohlenstoffdioxid – eine patentierte Technologie – oder mit Öl, das Poren bildet und anschließend wieder ausgewaschen wird. „Das poröse Granulat kann bei Raumtemperatur mit Additiven gefüllt werden“, erklärt Bernd Rachor, Betriebsleiter in Obernburg. Bei temperaturempfindlichen
Additiven ein großer Vorteil.

Feststoffadditive gefragt

Lange weiße Schnüre kommen aus dem Extruder. Sie werden zu Granulat verarbeitet, das bei der Produktion von Kunststoffteilen zum Einsatz kommt.
Lange weiße Schnüre kommen aus dem Extruder. Sie werden zu Granulat verarbeitet, das bei der Produktion von Kunststoffteilen zum Einsatz kommt.
Das Granulat wird auf bestimmte Größen gesiebt.
Das Granulat wird auf bestimmte Größen gesiebt.

Bei Evonik zählen Spezialadditive zu den vier Wachstumskernen. Evonik hatte bisher überwiegend flüssige Kunststoffadditive im Portfolio. „Die Kunststoffindustrie verwendet aber häufig Feststoffadditive, weil deren Einsatz weniger aufwendig ist“, erklärt Sabine Giessler-Blank, Leiterin der Produktlinie Polymer & Construction Specialties im Geschäftsgebiet Interface & Performance von Nutrition & Care. Um Flüssigadditive einzusetzen, müssen spezielle Dosierungen am Extruder eingebaut werden. Das kostet Geld – in einer Industrie, in der ohnehin schon ein hoher Kostendruck herrscht, eine zusätzliche Belastung. Beim Spritzguss beziehungsweise in der weiterverarbeitenden Kunststoffindustrie funktioniert der Einsatz der flüssigen Materialien technisch nicht. Mit der Übernahme des Geschäfts in Obernburg erweiterte das Geschäftsgebiet nun sein Portfolio um die Feststoffadditive und erschließt neue Märkte. „Mit unserem gebündelten Knowhow können wir jetzt die Wertschöpfungskette bis zum Schluss bedienen“, erklärt Kathrin Lehmann, Leiterin des Innovationsmanagements der Compounding-Gruppe innerhalb von Interface & Performance. Vom Additiv über den Masterbatch bis zum fertigen Kunststoffteil. Beliefert werden Hersteller von Masterbatchen, Compoundeure, die Kunststoffe aufbereiten, und Hersteller von Endprodukten. Das sind zum Beispiel Produzenten von Folien, Fasern, Vliesstoffen, Kabeln oder Autoteilen. Auch mit Duftstoffen kann man die aufgeschäumten Polymere beladen, zum Beispiel für die in Autos gern verwendeten Duftbäumchen.

Evonik kann die Kunden auch unterstützen, wenn neue Anforderungen an ein Kunststoffteil gestellt werden. Möchte etwa ein Joghurthersteller aus Umweltgründen bestimmte Stoffe nicht mehr in den Bechern verwenden, kann der Konzern mit seinem chemischen Know-how nach neuen Lösungen suchen. Die großen Produzenten, die ihre Verpackungen häufig im eigenen Haus herstellen, können diese Aufgabe in der Regel nicht selbst lösen. Sie haben keine Möglichkeit, verschiedene Alternativen auf Herz und Nieren zu testen.

Spitzenposition am Markt

Harald Winkler, Mitarbeiter in der Produktion in Obernburg, an der Aufschäumungsanlage
Harald Winkler, Mitarbeiter in der Produktion in Obernburg, an der Aufschäumungsanlage

ACCUREL® kann bis zu 80 Prozent Additiv aufnehmen und liegt damit am Markt in einer Spitzenposition. „Masterbatche mit einem Additivgehalt von über 50 Prozent bieten nur wenige Wettbewerber an“, sagt Pavel
Belik, zuständig für Sales & Marketing in Obernburg. Gängig seien zehn bis 20 Prozent. Der hohe Additivgehalt zahlt sich für die Kunden aus. Sie müssen nicht nur weniger Material transportieren und lagern, sondern können auch schneller produzieren.

Nur wenige Meter von der Aufschäumungsanlage entfernt steht eine weitere Produktionsstraße. Auch hier
fabriziert eine Maschine lange weiße Schnüre. Sie haben eine glatte Struktur und wirken wie niemals endende
weiße Spaghetti. Die Schnüre werden ebenfalls zu einem Granulat verarbeitet. Doch es gibt einen Unterschied: Die Additive werden schon in flüssiger Form der Schmelze im Extruder zugefügt, nicht später in eine Schaumstruktur eingebracht. Hier können weniger temperatursensible Additive verarbeitet werden.

Nicht nur die Schaumtechnologie erweitert das Portfolio des Spezialchemiekonzerns. Der Standort Obernburg
steuert auch zusätzliche Additive bei. Während bei Interface & Performance an der Goldschmidtstraße in
Essen vor allem Zusatzstoffe für den Flammschutz, Prozessadditive wie Dispergiermittel und Produkte für den Oberflächenschutz gegen Kratzer entwickelt werden, liefert Obernburg Stoffe gegen statische Aufladung, Produkte für Lebensmittelverpackungen und Verarbeitungshilfsmittel für Teppichfasern. Zusatzstoffe, die das
Beschlagen von Folien verhindern, hatten beide im Portfolio, allerdings für verschiedene Anwendungen. Auch das ergänzt sich jetzt perfekt. Dank der neuen Produkte hat Evonik nun Zugang zum Markt für Lebensmittelverpackungen.

Szenenwechsel: Jan Weber, Kunststofftechniker im Technikum in Essen, hat die Blasfolienmaschine mit Kunststoffgranulat und einem Masterbatch bestückt. Die Maschine schmilzt das Granulat, am Ende läuft eine hauchdünne Folie über eine Rolle aus dem Gerät. Im Anwendungstechniklabor nebenan hat Weber einen Versuch mit verschiedenen Folien aufgebaut. Drei Gläser mit Wasser sind mit Folie überspannt. Weber prüft, ob der Antibeschlagschutz funktioniert. „Wir testen hier auch Additive aus Obernburg. Die Zusammenarbeit ist für beide Seiten ein enormer Gewinn“, sagt er. Betriebsleiter Rachor vom Standort Obernburg pflichtet Weber bei: „Früher haben wir bei der Produktentwicklung ausschließlich mit unseren Kunden zusammengearbeitet“, sagt er. Jetzt können die Experten aus Obernburg zusätzlich die Anwendungstechnik in
Essen nutzen. „Das ermöglicht es uns, neue Additive selbst zu entwickeln und auf den Markt zu bringen“, betont Sales-und-Marketing-Experte Belik.

Die Zusammenarbeit hat schon erste Früchte getragen: Ein Masterbatch auf Basis von ACCUREL® aus Obernburg und dem Additiv TEGO Sorb® aus Essen wurde für die Anwendung im Kunststoffrecycling entwickelt. „Produkte aus recyceltem Kunststoff verströmen häufig einen stechenden Geruch. Das mithilfe von ACCUREL® in den Kunststoff eingebrachte TEGO Sorb® schluckt die übel riechenden Moleküle, und der Geruch verschwindet“, erklärt Rachor die Vorteile der Neuentwicklung. Das neue Produkt TEGO Sorb® PY 50 kann zum Beispiel beim Recyceln von Folien aus Gewächshäusern oder Müll aus dem Gelben Sack benutzt werden. Evonik stellte das Produkt bereits auf der Plastics-Recycling-Messe in Washington (USA) Mitte März vor. Auch auf der Kunststoffmesse K in Düsseldorf im Oktober wird das Produkt unter anderem präsentiert.

Chancen im Konzern

Lukas Abel, anwendungstechnischer Mitarbeiter in Essen, begutachtet eine aufgerollte Folie.
Lukas Abel, anwendungstechnischer Mitarbeiter in Essen, begutachtet eine aufgerollte Folie.
In der Anwendungstechnik in Essen prüft Jan Weber, ob die Additive die Folie vor dem Beschlagen schützen.
In der Anwendungstechnik in Essen prüft Jan Weber, ob die Additive die Folie vor dem Beschlagen schützen.

„Die Integration war für uns alle herausfordernd und für einige Leute am Standort eine große zusätzliche Arbeitsbelastung“, blickt Giessler-Blank zurück. Alle Kundendaten mussten in SAP eingepflegt, Rezepturen, Prüfmethoden übertragen werden. „Uns ist während der Umstellung aber kein Geschäft verloren gegangen“, betont sie. All der Aufwand erleichtert nun die Arbeit, zum Beispiel bei Zertifikaten und bei der Logistik. Zudem bieten sich konzernweit viele Möglichkeiten, die neue Technologie in weiteren Anwendungen und Geschäftsgebieten zu nutzen.

Bereits jetzt brüten die Essener und die Obernburger Experten über neuen Ideen: Wasserlösliche Kunststoffe und biobasierte Polymere etwa gewinnen zunehmend an Bedeutung. Und auch diese brauchen Additive, damit sie mechanisch stabiler und besser zu verarbeiten sind, keine Kratzer bekommen und vor Feuer geschützt sind.

Weitere Informationen: